ANTIGONE

Lieu

Théâtre des Capucins, Luxembourg

Co-production :

Théâtre du Centaure et Fundamental asbl

Musique :

Dieter Fischer

Mise en scène

Steve Karier

Date :

2009

Lumières :

Gérard Cleven

Costumes :

Katharina Polheim

Scénographie :

Diane Heirend

Photos :

Boshua

Und was sagt uns das heute noch?

 Einen solchen Herrscher hätten viele heute gerne. Kreon ist vernünftig, rational, er wägt seine Entscheidungen klug ab. Versöhnen statt spalten will er, das Volk nach dem schrecklichen Bürgerkrieg wieder versöhnen. Er steht für ein modernes Justizsystem. Griechenland befand sich im 5. Jahrhundert inmitten einer philosophischen Revolution, die Werte des Zusammenlebens wurden grundsätzlich neu definiert: weg vom alten, oft willkürlich erscheinenden, Götterrecht, hin zum Individuum. Die frühere Sippenhaft, in der der Enkel noch für den Großvater und dessen Taten bluten musste, wich einem Rechtsstaat, der die individuelle Schuld einführte. So auch Kreon: der verräterische Bruder wird bestraft, der andere für unschuldig erklärt. Früher hätte man gesagt: “Jetzt sind beide tot, das Schicksal der Ödipus – Sippe ist erfüllt.“

Griechenland wurde weltlich! Opfer der Säkularisierung waren vor allem die Götter. Der individuelle Glaube war zwar gestattet, aber an die Stelle des oft als willkürlich empfundenen Systems der Götter trat der moderne, nüchterne, rationale Mensch mit nachvollziehbaren Entscheidungen. Der Grieche, also der Zuschauer der Tragödien von Sophokles und Euripides, war durcheinander: Die bisherigen Werte sollten nicht mehr gelten? Auf einmal war alles anders? Diese tiefgreifende Verunsicherung, die damalige Wertediskussion, thematisieren die griechischen Tragödienschreiber.

Der eigenen Vernunft folgen oder weiterhin den Göttern? Jason lässt sich von Medea scheiden, weil er nach neuem Rechtsverständnis das Recht dazu hat. In Medeas Glaubenswelt ist Scheidung verboten. Konflikt unausweichlich. “Ich weiß“, sagt Medea, “du glaubst, dass die Götter nicht mehr regieren.“ Der Satz hätte auch Sophokles einfallen können, seine Antigone könnte König Kreon das gleiche auch sagen.

Antigone rührt uns. Ihr Mut, ihre Entschlossenheit machen sie zu einer griechischen Jeanne d’Arc. Mutig tritt sie gegen den Staat auf, pocht auf menschliche Werte. Da liegt die Versuchung nahe, in ihr eine frühe Revolutionärin zu sehen. Antigone als weiblicher Ché Guevara? So einfach ist das nicht. Denn ihre Werte sind nicht revolutionär, sondern ausgesprochen reaktionär. “Zurück zur Götterwelt“ ist ihr Programm. “Fundamentalistin“ würden SPIEGEL, FAZ und taz heute schreiben. Die Vernunft will sie zurückdrängen, den gerade funktionierenden Staat durch das vollkommen veraltete Götterrecht ersetzen, inklusive Blutrache und Sippenhaft. Immer noch Heldin?

 

 

 

 

 

 

Zumal sie auch noch engstirnig, verbohrt und radikal ist. Kein Wunder, dass Schwester Ismene zur Super-Nanny mutiert. Die Interpretationen wollen uns oft einreden, Ismene sei die Angepasste, der einfach nur der Mut fehlt. Aber ist es ein Fehler, gerne zu leben und deswegen auch überleben zu wollen? Unsere Gesellschaft beruht auf diesem Wunsch, lediglich religiös fanatische Selbstmordattentäter nehmen den eigenen Tod gerne in Kauf. Antigone ist auch in diesem Punkt fanatische Fundamentalistin: das Diesseits, ihr Leben bedeuten ihr nichts.

Der Zusammenprall der beiden Wertesysteme, dieser frühe “Clash of civilisations“, muss tödlich enden und produziert, so hoffnungslos ist Sophokles dann doch auch, nur Verlierer, damals sagte man noch: Opfer. Der Preis für die Durchsetzung des Rechtsstaates ist für Kreon ein hoher, ein persönlicher: der Verlust seiner Familie. Eigentlich kann er am Ende nur noch eins tun: sich betrinken.

Antigone die mutige Heldin, die dich gegen den Staat auflehnt? Rächerin der Armen und Entrechteten? Schön wär’s, aber so einfach ist das alles nicht. Die Inhalte von Kreon und das Herz von Antigone – ja, das wäre perfekt, das wäre eine griechische Obama. Doch Antigones Werte sind schwieriger. Wer sich außerhalb des gängigen Rechtssystems stellt, der hat nicht wirklich unsere Sympathie. Wenn Eltern aus religiösen Gründen die Kinder von der Schule nehmen, dann reagieren wir mit den Medien: “Da muss der Staat mal eingreifen“. Dass jemand seinen Glauben über des Rechstsystem des Staates stellt – für uns ganz schwierig, aber genau das tut Antigone. Eine strahlende Heldin ist sie nicht. Aber welche große Dramenfigur ist das schon?

Fendrich Originalbeitrag (aus der Materialmappe zu Karier’s Inszenierung “Antigone“)